Heute morgen hatte ich eine super Idee. Ich werde häufig von Nachbarn auf der Strasse oder Freunden am Telefon gefragt, wie es mir ginge. „Wie geht’s?“ ist eine Höflichkeitsformel wie „How do you do?“. Ich benutze die Floskel auch manchmal. Man sagt das, obwohl man sich nicht wirklich den Kopf über den Zustand der anderen Person zerbricht.
Dennoch ist es eine Frage und Fragen sollte man respektieren. Bisher habe ich meistens so etwas geantwortet wie „Uns geht es eigentlich den Umständen entsprechend ganz gut, nur das Home-Schooling ist natürlich eine Herausforderung.“
Ab heute ändere ich das, dachte ich mir heute beim Kaffee kochen. Und hatte sofort Gelegenheit, meine neue Idee an meiner Frau auszuprobieren. Mit Erfolg.
Ab heute werde ich nämlich auf die Frage „Wie geht’s?“ immer mit diesem Satz antworten: „Danke, gesundheitlich geht’s mir gut, aber ich habe große Angst vor der Klimakrise.“
Als ich diesen Satz heute morgen zu meiner Frau sagte, nachdem sie „Wie geht’s?“ gefragt hatte, konnte ich beobachten, wie sie stockte. Sie sah aus wie ein Vogel, der mitten im Flug stehen bleibt. Dann lachte sie und wir kamen ins Gespräch, in ein gutes Gespräch.
Mich irritiert ja schon seit Langem, dass meine Mitmenschen und ich ständig um den heissen Brei herum reden. (Darüber habe ich hier und hier bereits geschrieben.) Wenn man sich begegnet, spricht man über alles Mögliche, nur nicht über das wichtigste Thema. Nämlich über das Problem, welches uns alle verbindet, welches uns alle bedroht und welches wir alle zu verantworten haben. Und welches wir alle lösen könnten. Zum Beispiel, indem wir darüber reden.
Also, no more Mr. Nice Guy. Ab heute lautet meine Antwort immer: „Danke, gesundheitlich geht’s mir gut, aber ich habe große Angst vor der Klimakrise.“ Ich fühle mich mit dieser Antwort ganz wohl, denn sie entspricht meinem Zustand. Sie ist authentisch.
Vielleicht sammle ich auf diese Weise interessante Gespräche – und mache daraus einen Blogbeitrag…
Update (14.09.2021):
Seit diesem Blog-Artikel habe ich diesen fragwürdigen Trick oft angewandt: Wer mich fragt, wie’s mir geht, bekommt eine ehrliche Antwort. Dadurch habe ich einige Leute vor den Kopf gestossen, aber auch mehrere interessante Gespräche geführt.
Manchmal wurde ich nur angestarrt und das Gespräch stockte. Manchmal bekam ich so etwas wie eine Beileidsbekundung nach dem Motto „Na wenn es dir so geht, dann musst du das natürlich auch so sagen“. Oder eine Empfehlung, ich möge nicht vergessen, mein Leben zu genießen. Interessant wird es natürlich dann, wenn dein Gegenüber dir erzählt, was sie/er schon alles für den Klimaschutz tut. („Versuchen Plastik zu vermeiden“ führt die Hitliste an.) Wenn ich dann aber das Gespräch in Richtung Politik lenke, ist oft Schluß.
Richtig wohltuend wurde es einige Male, wenn ich merkte, dass ich mit meiner Antwort eine angelehnte Tür aufstieß. Ja wirklich: Manche Gesprächspartner:innen schienen geradezu dankbar, weil ich „es“ angesprochen hatte. Als würden sie sagen: „Und das sagst du hier in aller Öffentlichkeit? Na du traust dich ja was!“
Es fühlt sich für mich an, als dürfte man aus Höflichkeit gewisse Dinge nicht aussprechen sondern nur denken. Als müsste man sich heimlich Zettelchen zustecken, damit keiner hören kann, was man sich erzählt. Als wären manche Themen tabu.
Überschwemmungen. 50 Grad in Europa. Tote Wälder. Hungersnöte. Flüchtlingsströme. Aussterbende Tierarten.
All das tabu? Für ein kleines Momentchen Unbeschwertheit? Echt jetzt?
Ich mach weiter. Die Zeit ist zu brisant für banale Gespräche. Und mein Leben zu kurz dafür.
„Die nächsten 3-4 Jahre werden die Zukunft der Menschheit bestimmen.“ (Sir David King, ehem. klimawissenschaftlicher Berater der britischen Regierung 2020)