Wo sind all die Bücher hin?

P1020103Vom Sinn oder Unsinn der bürgerlichen Bücherwand

Mein Leben lang hatte ich Bücherregale. Zu Schulzeiten waren es circa 1 mal 1 Meter, zu Studentenzeiten 1,5 mal 2 Meter. Das Regal wuchs mit mir mit, letztes Jahr war es, zusammen mit den Büchern meiner Frau, 3,50 mal 2,30 Meter groß. Dann nahm meine Frau ihr Smartphone und scannte etwa die Hälfte der Bücher mit einer App – wenige Tage später waren diese Bücher per Post an einen Online-Buchhändler gegangen. Sie waren weg! Diesem barbarischen Akt waren viele Gespräche vorweg gegangen, in denen wir besprochen und beschlossen haben, uns von manchen Büchern zu trennen. RegalMitPippiAuch DVDs und CDs haben wir verkauft. Die Fotos hier zeigen unsere zentrale Wohnzimmerbibliothek vor und nach dieser Inventur. Allerdings sieht man nicht die Bücher, die uns lieb und teuer sind, denn die stehen jetzt in einem anderen Raum. Das zweite Foto trügt also ein bißchen. Es sind noch Bücher da.
Worauf ich aber hinaus will: Ich stelle mir die Frage, ob Bücherwände ein Generationending sind. Mein Vater hatte tausende Bücher, in seiner Wohnung waren alle Wände mit überfüllten Regalen bedeckt. Als ich nach seinem Tod den Haushalt auflösen musste, hat ein Antiquar vier Tage gebraucht, um alle Bücher abzuholen. In den bürgerlichen Wohnungen der umliegenden Häuser hier in Berlin-Wilmersdorf sieht man sie auch noch, die gute alte Bücherwand. Bei uns nun nicht mehr.
Als meine Mutter unser leeres Regal sah, bekam sie einen Schock. Sie war der Meinung, ich hätte alle Geschenke meiner Eltern weggeschmissen. Das habe ich nicht. Und es half auch nicht, meiner Mutter zu zeigen, daß alle wichtigen Bücher noch da waren.

Es war der Schrecken des leeren Bücherregals. Wie ein Abschied von einem Lebensstil. Wie ein Bruch mit der Vorgängergeneration. Wie ein Verrat an den Eltern.
Freunde bestätigten mir, Bücherwände seien unzeitgemäß. Heute liest man Bücher und schenkt oder verleiht sie dann weiter, verkauft sie oder spendet sie. Und man liest  zunehmend elektronische Bücher. DVDs und CDs kauft ja auch keiner mehr, außer vielleicht auf dem Flohmarkt.
Ich habe für mich erkannt: Das Buch, das ich bisher ins Regal stellte, sollte auch immer eine Trophäe sein. Es sollte sagen: „Seht, das habe ich gelesen, das habe ich geschafft! Das steckt nun in mir drin!“ Aber so wie ich noch nie ein Hirschgeweih an der Wand brauchte, brauche ich nun auch keine Buchtrophäen mehr. Weil die Inhalte ja tatsächlich in mir drin stecken. Und wenn nicht, dann waren sie mir wohl nicht wichtig genug. Auch dazu muß man stehen können. Lösen wir uns vom edukativen Imperativ der Vorfahren!
Und es gab ja auch Bücher, die ich jahrzehntelang ungelesen im Regal hatte. Wegen derer habe ich mich eher geschämt. Schluss damit! Das erste Grundgesetz des Lesers lautet: Du musst nicht lesen. Ich gebe zu, daß ich in den letzten dreissig Jahren nur selten zur Bücherwand ging mit der Frage: Was lese ich denn heute? Ich habe die Wand gerne angeschaut. Ich mochte diese Tapete, denn sie wärmte den Raum. Sie erinnerte mich auch unbewusst an etwas: An meine Kindheit in den Bücherhallen von meines Vaters Wohnung. Wenn ich heute an unseren schönen Bücherschrank (im anderen Zimmer) trete, blicke ich auf die Bücher, die ich liebe und die Bücher, die ich wirklich noch lesen will. Meine Frau auch. Ich bin gespannt, wie unsere Kinder das eines Tages wahrnehmen werden. Die haben übrigens schon heute in ihrem Zimmer ihr eigenes Bücherregal. Es stammt von meinem Vater.

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4 Gedanken zu „Wo sind all die Bücher hin?

  1. Jörg schreibt:

    Mein lieber Jakob,
    ich finde es gut, was ihr da gemacht habt. Wichtige Bücher und Erinnerungen behalten – den Rest raus und/oder weg. Interessant ist, dass meine Frau und ich gerade die gleiche Diskussion führen (müssen). Und wir sind noch nicht ganz einer Meinung 🙂 Aber ich kann mir schon was schöneres vorstellen als eine Bücherwand-Tapete! Beste Grüße die J.A.C.K.s

  2. Schließe mich Jörg an. Den ersten Akt – Rausschmiß unwichtiger Sekundärliteratur – habe ich längst hinter mir. Es wird das bleiben, was bei Euch blieb: Die lieb gewonnenen Ausgaben, ein paar Einzelstücke mit Autographen, natürlich die durch den jeweiligen Autor persönlich überreichten Exemplare und historisch relevante Ausgaben. Ich fürchte, dass auch mein Brockhaus wird bleiben müssen, da in der Summe ein Geschenk darstellend, ungfeachtet der annähernden Sinnlosigkeit seiner Existenz.

    Dass viele diese Gedanken haben, kann man problemlos an den 1 Euro-Bücher-Läden erkennen: Was dort für eine Eurone weggeht, wäre vor 10 Jahren noch unvorstellbar gewesen.

  3. Amaryllis schreibt:

    Abgesehen davon, dass ich meine Bücherwand optisch sehr mag kultiviere ich sie in Zeiten des E-Books mehr denn je. Meine Kinder lesen gelegentlich davon, nicht so viel wie ich mir wünschen würde aber doch. Ich habe immer gerne Lesestoff aus der Bücherwand meines Vaters geliehen (doppelt gerne weil ich eine der wenigen war die das uneingeschränkt durfte) und ich habe nach seinem Tod auch einen Teil davon in mein Regal integriert. Teils aus nostalgischen Gründen, teils weil ich das eine oder andere eh schon immer haben oder lesen wollte.
    Abgesehen davon, dass das Schmökern und Gustieren in einer E-Bücherwand (zumindest mir, vielleicht bin ich zu alt) viel schwerer fällt, ist es mir per Gesetz verboten meine Kinder, meine Familie, meine Freunde daran Teil haben zu lassen. Ich finde es sehr berreichernd in anderer Leute Bücherwand zu stöbern, darüber zu plaudern oder zu diskutieren.
    Daher ein absolutes JA zur Bücherwand, mag sie auch noch so viel Staub und Triviales anziehen!

    1. Hallo Amaryllis! Vielen Dank für Dein JA zur Bücherwand! Ich freue mich, dass dieses Thema auch andere Menschen beschäftigt. Seit unser Regal nun weg ist, hängen dort Bilder und die Bücher sind reduziert und an anderen Orten. Selbst die Kinder haben ein echtes kleines Bücherregal. E-Books spielen nur eine geringe Rolle. Was meinst Du mit „per Gesetz verboten“?

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